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Nachgetreten: WM-Feiernde und staatsferner Nationalstolz
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Dieser Essay ist lang und enthält viel Spökes. Im Kern geht es um Feiernde, die über die Strenge schlagen und die Frage, ob man daraus einen großen, staatstragenden Zusammenhang herstellen kann, wie immer wieder behauptet wird.

Die WM ist vorbei! Zeit für einige kritische Anmerkungen, bevor der Alltagstrott auch noch den letzten im Griff hat. Denn der Bewusstseinswandel beim Nationalgefühl der Teutschen geht weiter. Und das manifestiert sich nicht etwa in irgendwelchen Tänzen in Berlin.

Erstens. Dass der Gaucho nicht dauerhaft gebückt geht, sondern nur geschlagen vom Spielfeld trottete, während der siegende Deutsche hüpfend auf den Rasen steht, mag auch jedem zweiten FAZ-Leser klar geworden sein. (Auch wenn der Verweis auf Fußballtradition dabei nicht ausreicht. Nur weil man andauernd Unrechtes tut, ist es noch lange nicht richtig (#Blackface; #Aufschrei)) Aber das ist auch nicht das Kernproblem.

Zweitens. Auch nicht, dass man einige Bürger in den letzten Wochen partout alle Normen und Regeln beflissentlich zu ignorieren wussten. Da wurde an Polizeiwagen geschaukelt, Autos verrückt, mit Flaschen geworfen, Straßenzüge besetzt, anrückende Polizeiwagen und Truppen in Kampfmontur gingen (ab Min. 4:00) nur wenige Dutzend Meter von Tankstellen entfernt in Bengalo-Rauch unter und alleingelassene Polizisten wussten nur noch einen Rat: Beide Augen zudrücken, bloß nicht eingreifen, sonst kann es zur Eskalation kommen. Mit üblem Ausgang für die Staatsmacht. „ACAB“ skandierte die Menge. “Wenn das hier außer Kontrolle gerät”, spricht ein Fan mit schwerer Stimme Wahrheit, “dann werden die hier überrollt.”

Den feiernden Fan in seinem Lauf, hält weder Gaucho noch Polizeiwagen auf, kann man da spöttisch zusammenfassend.

Wer glaubt, dass Korso oder Feiern draußen neu sind, irrt. Es gibt sogar Videos von 1990, etwa aus dem beschaulichen Bocholt, samt Bengalos. oder noch etwas interessanter, aus Aachen.

“Sieg”, “Olé”, ein bisschen übermütiger Krawall, eine Trompete tönt die Hymnenmelodie, mit etwas “Deutschland über Alles” in der Luft, Feierlaune.

Drittens. Ich selbst habe kein Problem damit, mich als Deutscher zu identifizieren, weder im Inland noch im Ausland. Wer lange außerhalb der Grenzen gewohnt hat, weiß, dass es ganz normal ist, genau wie die Tatsache, in gewissen Kreisen noch immer den dunklen Mantel des dritten Reichs auf die Schultern gedrückt zu bekommen. „Ah, Hitler, right?“ Dass das Reich vor über 70 Jahren in Flammen aufging und nichts übrig ließ als ein weitestgehend pazifistisches Volk, dass misstrauisch gegen jede Art von Staat und Militär (zumindest im Weste) war, geschenkt. „Ah, how is Hitler?“

Damit muss man leben, auch wenn es für 99,9 Prozent der letzten Generation, geboren Ende der 90er Jahre, kein persönliche Rolle spielt. Nie wieder Hitler, das steht natürlich fest. Aber ob der Urgroßvater den Arm nach oben riss oder nicht, die Uroma im Widerstand war und/oder das Mutterkreuz bekam, wissen wir oft nicht, können wir oft nicht mehr wissen, auf jeden Fall: Es betrifft uns nicht mehr im Inneren. Die Kollektivschuld, sie bleibt irgendwo. Aber persönlich etwas mit den ursprünglichen Nazis oder neuen Rechten Ideologien am Hut haben? In den meisten Städten und Gemeinden Deutschlands nicht, glaubt man.

Viertens. Und dennoch wurde mir mulmig, als ich mit 7000 Deutschen auf dem Bonner Bertha-von-Suttnerplatz stand, Bengalos den Nachthimmel in rotes Licht tauchten, und der Sprechchor „Wer nicht springt, der ist kein Deutscher“ anstimmte.

Springe ich jetzt mit, oder lasse ich es sein? Bin ich kein Deutscher, wenn ich mit beiden Beinen Bodenkontakt halte? Was passiert mit mir dann, wenn es jemand sieht?

Natürlich wurde „Wer nicht springt, der ist ein …“ in den Tiefen der deutschen Fankurven kultiviert, gepflegt, vielleicht sogar erfunden, gehört damit zur Fankultur. An sich ist es nicht weiter schlimm, da es meist nur in oder vor Stadien angewandt wird. Auch wenn man nicht vergessen darf, wie die Fanblocks seit Jahren unter rechtem Druck leidet. Springe ich, oder reiße ich gar den Arm hoch, wie es nach dem Sieg auch verlangt wurde?

Fünftens. Man sollte darüber reflektieren. Vor allem die junge Generation, für die Helene Fischer und Volksmusik kein Tabu ist, sondern das neue Grunge, die Gewissensentscheidungen wie die Wehrpflicht nicht mehr vorgesetzt bekommt, die seit 10 Jahren weiß, dass wir irgendwo in Afghanistan einen Krieg für nichts führen, aber keine Grund zur Demo sieht, die unverkrampft zur Fahne greift und Gaucho-Debatten genauso lächerlich findet wie die Frage, ob man als Deutscher auf Befehl zu springen hat oder nicht, wenn es jemand befiehlt, es ist ja nur Fußball, vor allem diese junge Generation ist der vollendete Neuanfang in der Beziehung zum Staat und zum Staatsgefüge.

An der Spitze ist die sorgende und ständig siegende Merkel, die schon weiß, was zu tun ist, in der Eurokrise, der Bankenkrise, der südeuropäischen Staatenkrise, der Rentenkrise, der Generationenkrise, der NSA-Bürgerrechtekrise. Die da oben sind nicht mehr per se suspekt, man hat nur wohlwollend oder nur missfallend, hauptsächlich aber irgendwie resigniert.

Vorbei die Zeiten, als man bei einem Zensus noch dachte, der Staat will seine Bürger in Kästchen einordnen und ausspähen. Vorbei die Zeit, als man bei einer Vorratsdatenspeicherung bereits Gestapo-Stiefel durch Treppenhäuser hallen hörte. Es ist egal, man hat ja nix zu verbergen, und wer nicht mitspringt, ist kein Deutscher oder macht sich verdächtig. Schulterzucken? Polemik? Übertrieben?

„Sowas passiert doch nicht mehr…“ Heißt es dann. Oder dass man solche kleine Dinge nicht zusammen mit dem großen schwarzen Dämon an die Wand malen darf. Der Mann am Dachboden, der Stasi-Mitarbeiter von Nebenan, er ist ja schließlich auch schon seit 25 Jahren arbeitslos.

Diese WM war ein Weckruf für den Patriotismus. Als „sanfter“ wird er klassifiziert, nicht böse, nicht wütend wie sein Knastbruder Nationalismus, sondern als schöner. Wir sind wieder wer, wir sind Weltmeister.

1954 wurde durch Fußball eine Nation wieder aufgerichtet, 1974 fiel in die Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, 1990 waren wir ein Volk, zumindest im Nationensprech. Alle zwanzig Jahre werden wir Weltmeister. 1990 war etwas früh, weshalb uns 2014 wie eine Ewigkeit vorkam. Und alle stehen für einen Wandel.

Doch wofür steht, sechstens, dieser Sieg?  Er  ist ein anderer als 1990.  2014 fand die WM-Feier, die Begrüßung der heimkehrenden Fußballhelden, erstmals nicht im betulichen Frankfurt statt, sondern im brodelnden Jung-Berlin. Erstmals vereint, erstmals ein Volk, zusammengewachsen, mit blühenden Landschaften irgendwo, feierte man ein Team mit Migrationshintergrund.

Auch das muss man erwähnen. Deutsch ist nicht mehr der Blutsdeutsche. Deutsch ist, wer für die deutsche Nationalmannschaft jubelt.

“Also in der Siegesfeier, die ich gesehen habe, wurde ein Sohn polnischer Eltern als bester Mann gefeiert, und ein anderer feierte seine Stadt, Köln. Ein Sohn eines ghanaischen Vaters verkündete seinen Stolz darüber, Berliner zu sein. Nicht zuletzt die Söhne tunesischer und türkischer Eltern wurden als Teil unserer, der deutschen Nationalmannschaft von unserem homosexuellen Bürgermeister in unserer buntesten wiedervereinten Stadt gefeiert.”1. (Markus Bartha, nach Blog.nassrasur.com)

Nicht mehr durch und für eine vermeintliche Rassenzugehörigkeit folgt man einem charismatischen Führer in bis in den Untergang. Häufig fanden sich Menschen mit Migrationshintergrund an den Feier Hot-Spots und in den Korsos ein, schwenkten Fahne und sprangen mit. Stattdessen bejubelt man das Konzept einer jungen, erfolgreichen, siegreichen Nation. Man hüllt sich in schwarz-rot-güldenen Stoff ein, pfeifft mit Absicht auf alles, was Ordnung darstellt, feiert vom Abpfiff an für drei Stunden, braust hupend durch die Innenstadt und geht dann zu Bett, nicht bevor er die Fahne im Straßendreck und Bier- und Scherbenschnodder schleifend versaut hat.

Besteht da die Gefahr einer nationalistischen Wiedergeburt, oder ist es nur das Einfinden in einem neuen Patriotismus?

Es ist ein Stolz auf den Sieg, für den man selbst zwar nichts kann, aber der einem irgendwie auch gehört. Weltmeister, Papst, Retter Europas. Vollbeschäftigung. Deutschland siegt am Stück, und das wird Teil der Identität. Die eigene Lebenslage ist privat, ist meist auch nicht so dolle, aber der Sieg vereint. Es ist ein sanfter Erfolgspatriotismus, ein unpolitischer, so unpolitisch wie unsere Generation.

Sicherlich weist #Schlandwatch zurecht auf Besorgniserregende Vorkommnisse hin. Sicherlich gab es “Ausländer raus!” Rufe in den zu erwartenden Gebieten, jedoch nicht flächendeckend.

All dies sind nur Indizien. Deutschland wächst zusammen durch den Sieg. Aber die Traditionen, die seit 1945 Wegweiser waren, angefangen von einer eindeutigen Westbindung über eine Ablehnung aller nationalistischer und faschistischer Tendenzen, zumindest im großen, im politischen Tagesgeschäft, verliert an Boden. Eine totale Überwachung ist egal, glaubt ja nichts zu verbergen zu haben. Der Staat ist nicht gut oder schlecht, er ist da, und was er tut, wird schon richtig sein.

Die Bewohner Deutschlands, vor allem die jungen, stehen am Anfang einer neuen Generation. Es geht ihr verglichen mit anderen Nationen in Europa vergleichsweise gut, weshalb sie sich freut und weitestgehend apolitisch ist, in vielen Bereichen einem latenten Menefreghismus frönt, sie ist in früher weniger wichtigen Dingen erfolgsverwöhnt und in steter Feierlaune. Man ärgert sich ein bisschen über Leute von anderswo, aber nur, wenn sie deutlich ärmer sind.

Und so steht letztens fest: Die Feiern zum Sieg verändern wieder das Land ein Stückchen. Sie sind aber kein Zeichen einer nationalistisch-ideologischen Wiedergeburt, dazu ist die dabei herrschende Staatsferne zu offensichtlich.

Vielmehr wird deutlich, wie im Siegestaumel nur das urwütige aus dem Inneren des Einzelnen hervorgekrochen wird. Man feiert gemeinsam, kultiviert zugleich seine Abneigungen, die hervorbrechen.

Wo wir stehen, als Nation, werden wir erst sehen können, wenn es mal nicht so gut ist. Wenn die Arbeitslosigkeit über zehn Prozent liegt und wir in der Vorrunde ausscheiden.

<tl;dr> Die Feierei zum WM-Siegs verändert das Land, sind aber kein Zeichen einer nationalistischen Neugeburt, sondern der herrschenden Staatsferne.

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