Reaktion auf: Severints: Repariert die Diskussionskultur
In einer viel frequentierten Bonner U-Bahn-Station sitzt meist ein Mann mit seinem Gepäck, und redet wild und wirr mit sich, mal auch mit den Gästen, die meist achtlos an ihm vorbeihetzen. Manchmal bittet er auch um Geld. Und machmal gibt das, was er sagt, auch einen tieferen, philosophischen Sinn.
Meist sage ich ‘Guten Tag’, weil man nett zu jedem Menschen sein sollte. Mit ihm sprechen tu ich meistens nicht, auf das einzugehen, was er sagt, mache ich noch weniger. Denn meine Filterblase funktioniert, und da geht es meist liberal-ironisch zu, vor allem aber demokratisch-kultiviert. Und sie zu verlassen, mich mit seltsamen, kruden Gedankengängen zu beschäftigen, dafür ist mir meine Zeit meist zu knapp, und ich muss einen Zug bekommen.
Der Zug kommt laut Plan um 17.16. Das ist ein Fakt, so ist er terminiert. Da gibt es nichts zu deuteln. Auch wenn er aus verschiedenen Gründen mal um 17.23 kommt, mal ausfällt, oder er manchmal schon eine Minute früher eintrifft. Es ist die 17.16-Bahn der Linie 66. Sie unterliegt Gesetzesmäßigkeiten.
Über Abweichungen kann man diskutieren, Maßnahmen ergreifen, die sie ins Lot bringen. Zu behaupten, den Zug gibt es gar nicht, oder dass alle Bonner SWB-Bahnen unpünktlich sind, oder dass die Aushänge fremdgesteuerte Lügenpresse wäre, weil ebenjener Zug Verspätung hat, ist falsch. Genauso wie zu sagen, dass man an der Pünktlichkeit gar nicht zweifeln darf. Zu behaupten, dass neulich eine Bahn von einem frauenvergewaltigenden Flüchtling auf der Flucht geklaut wurde, damit er schneller in Köln ist, ist eine infame Lüge, und hoffentlich bald nicht nur straf- sondern hoffentlich auch bestrafbar, wenn unser Gesetzgeber mal Eier gegenüber Facebook zeigt.
Wer sich heute im Netz bewegt, begegnet beidem: Leute, die Fakten nicht glauben, der Presse misstrauen, Gerüchte als Meldung verkaufen, weil es ins Weltbild passt. Und Leute, die wirr brabbeln, ohne auf Argumente einzugehen. Für den Austausch der Argumente sind sie nicht zu haben.
Sie sind diskussionskulturlos.
Filterblasen-Tod
Das liegt nicht nur an den Filterblasen der einfältigen Gewohnheitstiere, die zu verlassen bei Severint vorgeschlagen wurde. Wer schon einmal versucht hat, bei Facebook seine Filterblase zu verlieren, weiß, wie schwierig es ist. Und zehn verschiedene Facebook-Profile pflegt der Normalsterbliche nunmal nicht. Außer er ist ein rechter Hetzer, die haben bekanntermaßen ein Haufen davon, hört man so.
Ein breites Meinungsspektrum mit seinen Likes abzudecken hilft da wenig, wenn die sonstige Interaktion nicht stimmt. Facebook ist für den Pluralismus schlicht der Tod, weil die 20, 30 Beiträge, die täglich im Feed eingespielt werden, schlicht nicht das Meinungsspektrum widerspiegeln. Stattdessen ist eine breite Interaktion der Freunde oder des Profilnutzers ausschlaggebend. Und tagelang AfD-Beiträge zu liken, nur damit der Feed vernünftig als gut meinungsdurchmischte Nachrichtenquelle dient, ist utopisch.
Facebook wurde nicht als neutraler Nachrichtenaggregator geschaffen. Es wurde geschaffen, um die News der Freunde zu erhalten, und später, um die Interessen eines Menschen mit passenden Produkten zu füllen. Es ist per se, eben durch seinen Algorithmus, keine News-Plattform. Es wird aber als solche vom faulen Individuum Mensch mißbraucht, der seine auch mal in den Zug kotzende Freunde als seriöser einstuft als die Presse, deren Beruf Nachrichten sind, weil diese indenzugkotzenden Freunde die Presse als Lügenpresse beschimpfen.
Anders sieht es bei Twitter aus. Leuten aus einem breiten Spektrum zu Folgen, ist legitim und nötig. Wer weniger als 500 Leuten folgt, ist schon fast als Filterblasenboy zu bemitleiden. Deshalb, und weil Twitter nicht filtert, hat Twitter zwar seine Berechtigung. Wird aber nie deutscher Michel-Relevanz haben.
Bei funktionierender Diskussionkultur ist Blocken ein No-Go – mit Ausnahmen
Jemanden zu blocken, der dummes Zeug schwafelt, ist okay. Aber nur, wenn er Diskussions-Regeln verletzt. Und diese sind bei vielen Menschen aus dem Lot geraten. Fakten sind keine mehr, Meldungen werden immer nach bösen Absichten hinterfragt. Man wird persönlich. Der Blockade-Ausruf “Geh kacken” ist einer dieser Auswüchse
Wenn ein Syrer tausend Euro findet und abgibt, dann ist das eine Erfindung der Lügenpresse. Weil Syrer in echt Diebe sind? Weil Deutsche niemals tausend Euro abgeben würden? Weil Syrer, die nicht arbeiten dürfen und daher oft unterwegs sind, nichts finden? Man kann sich natürlich fragen, warum die Pressestelle einer Stadt, der Polizei oder des Fundbüros die Nachricht so bekannt gibt, oder warum der Journalist nachgefragt hat, bis er die Nation herausgefunden hatte. Aber die Tatsache, dass der Syrer tausend Euro gefunden hat, ist eine Tatsache.
Oder dass vier von denen eine Frau in Godesberg gerettet haben, die sonst gestorben wäre. Falls der Bericht überhaupt stimme, wie Marina über einen Zeitungsbericht des General Anzeigers zweifelt. Weil, ist ja Lügenpresse und sonst auch alles erfunden?
Es geht um die Diskussionskultur
Diskussionen führen, folgen und als Diskurs verstehen, das ist eine Kunst. Diskussionen leiten war früher in der Öffentlichkeit nur Eliten und Gebildeten vorbehalten war. Im Fernsehen standen Politiker, auf dem Podium Experten, in den Hörsälen der 70er zeigte sich schnell wer reden konnte, wer diskutieren konnte, und wen man besser nur als Mikro-Träger nimmt
Dem Rest war der Kommentar und das Schimpfen am Biertisch von Buxtehude vorbehalten. Das bekam niemand mit, der einen nicht kannte, und das war meisten besser, weil die Freunde drücken schonmal ein Auge zu bei dummem Schmu. Weltweite Öffentlichkeit wurde ihren nicht zuteil. Dumme Leserbriefe wurden nicht gedruckt, auch zum Schutz der Schreiber.
Diskussionskultur beinhaltet auch, dass man sich zurücknimmt. Es ist ein Zwiegespräch. Man tauscht Argumente aus, achtet den Menschen, seine Meinung vieleicht weniger, wenn sie dumm und unlogisch ist. Aber man drohte nicht, den anderen aufzuknüpfen, weil sein türkis eher grün ist als blau.
Im Internet ist der Mensch nur ein Foto mit Namen, beides wahrscheinlich falsch. Bislang ist die juristische Haftbarkeit, anders als am Biertisch, auch nicht immer möglich, sodass man vogelfrei ist, dummen Scheiß zu schwafeln. Es existiert kein System von Checks and Balances. Kein Feedback zur eigenen Meinung, das man ernst nehmen muss, weil der gegneüber tausend Kilometer im Reallife entfernt sitzt. Und weil man sich nich darum kümmern muss, ob der Scheiß, den man schreibt, richtig ist, muss man auch nicht mehr überlegen. Ein Like für die eigene Meinung wirkt da wie eine Metabolspritze.
Strafe für dummes Zeugs kommt heute anders als früher. Früher hätte man bei Volksverhetzung gesagt: “So hat es mit den Juden auch angefangen”. Und das hätte gesessen. Man hätte darüber nachgedacht. Heute antwortet man auf solche Repliken mit “Meinungsfreiheit”, “Nazikeule” oder “linksgrün versiffter Gutmensch”, und das in aller Öffentlichkeit, ohne Reflexion, ohne Löschen des eigenen Posts, ohne tiefgründige Arumentation. Man schämt sich nicht mehr, man verheimlicht seine rechtslastigen Gedanken nicht mehr hinter Anstand, und hat nicht die Reflexion, sich zurückzunehmen.
Welche Maßnahmen bleiben dann, bei öffentlicher Hetze? Der öffentliche Pranger.
Warum Tichy wissen müsste, was er schreibt
Wenn man bei einem dummen Kommentar auch mal ein Auge zudrücken kann, wenn Einsicht herrscht, ist das bei Publizisten anders. Natürlich kann man mal ins Klo greifen, wie es Tichy mit seinen “geistig-psychisch” kranken “linksgrünen Gutmenschen” geschafft hat. Da war der Zensor, äh, der Redakteur, wohl kurz pinkeln, als Roland auf den Publish-Button drückte.
Wer im Netz publiziert, öffentlich kommentiert oder sonstwie schreibt, sollte sich seiner weltweiten Leserschaft genauso bewusst sein wie der Reaktionen. Dazu gehört auch, angemessen zu schreiben, und nicht zu schimpfen, nicht zu hetzen und nicht zu diffamieren. Wer das aber tut, der verdient eine angemessene Reaktion gegen den Beitrag.
Der Shitstorm gegen XING ist albern. Er wäre richtig, wenn XING oder Tichy nicht zuvor reagiert hätten, den Beitrag entfernt hätten. Morddrohungen gegen Tichy sind kriminell, und zeigen, mit wes Geistes Kind seiner Trolle die andere Seite auch aufweisen kann.
Deshalb, wie Severint richtig schreibt: boykottiert nicht.
Aber blockt dumme Menschen, wenn sie nicht diskutieren, sondern gegen euch hetzen, stellt dumme Kommentare öffentlich bloß. Macht Anzeigen, auch wenn es noch wenig bringt. Aber boykottiert nicht die Arbeitgeber wegen Einzefällen der Angestellten. Trennt zwischen Mensch und Meinungen. Überprüft euer Weltbild. Lasst euch überzeugen, wenn ihr falsch liegt. Aber verliert nie euren moralischen Kompass, nie die Menschlichkeit, sprecht nie Menschen ihre Würde ab..
Diskussionen führt man gemeinsam.
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